27 Jan Wie man als Talent-Acquisition Manager 20 Stellen gleichzeitig betreut (und dabei überlebt)
Hallo Leserinnen und Leser, Das Thema dieses Artikels hört sich vielleicht nach einem Scherz an.
Aber wenn jemand wie ich im Bereich Talentakquise tätig ist, weiß man, dass es sich hierbei um einen der intensivsten Jobs überhaupt handelt.
Man kann den Job auch gut als „24/7“-Job bezeichnen – Man hat nie frei und ist immer dabei E-Mails zu beantworten. Andere feiern Weihnachten, essen mit der Familie zu Abend, haben Dates oder gehen ins Fitnessstudio. Klar hat man als Talent Acquisition Manager ein Leben – wir gehen aus, wir machen ganz normale Dinge welche andere auch tun, aber eben immer mit dem Smartphone in der Hand und dem E-Mail-Account im Blick.
Wenn ich mich mit meinem besten Freund treffe oder mit meiner Frau ausgehe, läuft das meist auch so ab. Da ich beide durchaus sehr zu schätzen weiss, checke ich meine E-Mails immer heimlich, wenn sie zum Beispiel zur Toilette gehen 😉. Außerdem bekomme ich regelmäßig Panik, wenn mein Smartphone keinen Empfang hat oder ich es irgendwo liegengelassen habe. Offline zu sein fühlt sich merkwürdig an. Man könnte meinen, dies ist der schnellste Weg zum Burnout – kann sein – aber das ist nun mal mein Traumjob und ich habe mit der Zeit gelernt, damit umzugehen.
Sie fragen sich vielleicht, was denn konkret so intensiv bei der Talent-Akquise ist. Genau darauf möchte ich hier eingehen.
Zahlen
Die Prozesse, welche man abwickelt, sind zunächst einmal sehr einfach. Komplex wird es erst dann, wenn sich jeder Prozess an die 10.000 Mal wiederholt, denn wir bearbeiten 20 Stellen gleichzeitig. Ziel eines jeden Prozesses ist es, den besten Bewerber für die entsprechende Funktion einzustellen. Easy, oder? Was schätzen Sie, wie viele Bewerber sich für jedes einzelne Stellenangebot bewerben? Um die 500? Das heißt, dass in etwa 10.000 Bewerbungen über Ihren Schreibtisch gehen – 10.000 Rückmeldungen an Bewerbende, die ungeduldig darauf warten.
Ein Rekrutierer macht um die 200 telefonische Bewerbungsgespräche
Die verantwortliche Rekrutierungsperson organisiert 150 – 180 telefonische Bewerbungsgespräche mit den Personalverantwortlichen sowie 80 Bewerbungsgespräche vor Ort mit entsprechenden anschließenden Feedback-Runden. Es ist also klar die Menge, die es ausmacht.
Menschliche Fehler
Man kann nun einmal aus Menschen keine Maschinen machen.
Das berühmte Buch „Complications“ von Atul Gawande befasst sich mit dem Thema menschliche Fehler auf dem wohl am meisten kontrollierten und kritisiertesten Gebiet des Wissens – der Humanmedizin. Der Autor erforscht die Fehler und kommt zu folgendem Schluss: sie sind unvermeidlich, das liegt in der menschlichen Natur. Aber er spricht auch von einer Lösung und genau über diese möchte ich hier reden. Überall werden Fehler gemacht, davon bleiben auch die Einstellungsabläufe nicht verschont:
- Eine E-Mail wurde an eine falsche Person versendet
- In einem Vertrag steht eine falsche Zahl
- Eine Kommunikation ist nicht fristgemäß bei der richtigen Person eingetroffen
- Jemand war krank oder hat das Zugesagte nicht vorgelegt
- Jemand hat zwischen Tür und Angel den Prozess geändert, ohne die anderen darüber zu informieren
- Jemand hat einen offensichtlich nicht geeigneten Bewerber eingeladen
- Jemand hat beim Durchlesen der Profile zu lange gebraucht und nun ist der beste Bewerber weg
Es kann alles passieren. Und alles, was passiert, muss von jemandem geregelt werden. Und von wem? Vom TA-Manager natürlich. Wir löschen Brände, wir entschuldigen uns für unsere sowie für die Fehler anderer und bringen alles wieder in Ordnung.
Schnelligkeit, Stress, Wichtigkeit, Druck und wieder Stress
Wenn Sie glauben, dass zwei der oben genannten Faktoren schon ausreichen würden, um diesen Job intensiv und schwierig zu machen, füge ich unserem Rezept noch eine dritte Komponente hinzu: Stress. Nichts im Einstellungsverfahren ist „einfach nur einstellen“ – irgendetwas steht immer auf dem Spiel.
Jeder ist in Eile, jeder steht unter Druck und macht sich zusätzlich selbst Druck, quält sich durch die Weiten der Mailbox und sehr unterschiedliche menschliche Charaktere treffen aufeinander.
Und glauben Sie mir, dadurch werden die Dinge nicht gerade einfacher. Manche Prozesse sind dringend, einige Fachleute sind schwer zu finden oder diverse Standorte sind für Bewerber nicht so attraktiv was die Rekrutierung einer Person nicht gerade einfacher macht. Manchmal muss man hunderte Personen innerhalb weniger Wochen einstellen und Menschen üben natürlich auch unnötigen Druck aufeinander aus, verstärken den Stress und übertragen ihn auf andere. Wir können nicht nett zueinander sein, wenn wir Angst um unsere Arbeitsplätze haben, Leistungsbewertungen erwarten, darum kämpfen Karriere zu machen, deprimiert und müde oder vielleicht krank sind, nicht (manchmal über Jahre hinweg) genug geschlafen haben oder uns mit einer Kombination aus all dem herumschlagen.
Ablenkung:
Das ist der Zerstörer unserer besten Absichten
Mein Telefon klingelt. Dienstleister versuchen, mich zu erreichen. Bewerber wollen Feedback. Einstellende Manager wollen über den Angebotsprozess auf dem Laufenden gehalten werden. Mitarbeiter wollen meinen Rat. Andere möchten grosszügig ihren Stress mit mir teilen.
Und man muss natürlich immer im Hinterkopf haben: Die Talent-Akquise ist das Aushängeschild des Unternehmens.
Das heißt, man muss ruhig bleiben und ansprechbar sein. Sie sollten auf Anrufe reagieren und mit Bewerbern und Dienstleistern sprechen. Sie sollten jedem Ihre Zeit und Aufmerksamkeit schenken, und verdammt noch mal, SEIEN Sie, egal was ist, NETT –
auch wenn Sie heute noch keine Zeit zum Essen hatten. Seien Sie höflich, wenn Sie ans Telefon gehen oder wenn Sie eine E-Mail beantworten.
Auch müssen Sie nachfassen, Feedback geben und verfügbar sein. Aber wann soll ich dann arbeiten? Wann soll ich Mitarbeiter einstellen? Viele von uns nehmen als Reaktion auf den Druck Arbeit mit nach Hause, beantworten E-Mails ab 06.00 Uhr morgens, machen keine Pausen, arbeiten am Wochenende und kümmern sich nachts um die Rekrutierung der Talente. Wir sind inzwischen 24/7 verfügbar. Aber ergeben sich hieraus langfristig wirklich bessere Ergebnisse?
Lösungen
Was soll man mit dem ganzen Durcheinander machen? Ich habe leider kein Rezept und freue mich, Gedanken, Wissen und Erfahrungen der letzten Jahre mit Ihnen austauschen zu können. Hier einige Ansätze:
Das Problem mit den vielen Prozessen
Das Problem lässt sich allgemein am einfachsten lösen. Hier kommt die Bewerbersoftware! Der einfachste Weg, eine grosse Anzahl an mehrstufigen Prozessen gleichzeitig zu handhaben, besteht darin, die Software zu finden, die sich am besten für Ihre Zielsetzungen eignet. Der Markt ist voll mit Software.
Meine Must-haves sind Folgende:
Farbcodierung
Jeder Einstellungsprozess mit mehreren Bewerbern in verschiedenen Phasen des Einstellungsprozesses sollte farblich gekennzeichnet werden. Ich habe mich für das Ampelprinzip entschieden: Grün (alles in Ordnung), Orange (hat noch etwas Zeit), Rot (Achtung Handlungsbedarf) und einen Farbcode für die Bewerber ausgewählt, um die sich andere kümmern müssen – beispielsweise Violett für die einstellenden Manager und Blau für den Bereich Finanzen. Dies verhilft zu einem einfacheren, schnelleren und besseren Überblick der aktuellen Situation.
Transparenz des Prozesses für alle Seiten
Stellen Sie, wenn Sie sich für ein geeignetes Bewerbersystem entscheiden haben, sicher, dass der Prozess für jeden Stakeholder transparent ist. Jeder kann auf seinen eigenen Einstellungsprozess zugreifen und auf einen Blick sehen, was passiert ist und so ein Gefühl der Kontrolle bekommen. Sämtliche Beteiligten – angefangen beim TAM bis hin zum Managementteam – haben so einen umfassenden Einblick in den Prozess.
Der Prozess wird durch Transparenz schneller
Das Problem mit den menschlichen Fehlern
So viel wie möglich automatisieren: Ich verwende Vorlagen für meine Nachrichten und habe automatische Erinnerungen und versuche, so viele Fehler wie möglich zu eliminieren. Jedes Mal, wenn ich daran erinnern muss, etwas zu prüfen, etwas zuzusenden, etwas zurückzuschicken, oder eine andere Person dazu auffordern muss, etwas zurückzugeben, denke ich über Automatisierung nach. Verschwenden Sie Ihre Energie nicht mit etwas, das eine Maschine erledigen kann!
Das Konzept Quality-by-Design liegt mir sehr am Herzen, insbesondere, wenn es darum geht, anderen dabei zu helfen, keine Fehler zu machen. Wenn Sie sich einen Prozess anschauen, betrachten Sie diesen aus Sicht der Qualitätssicherung. Jeder Schritt sollte Sie logischerweise dahin bringen, den nächsten Schritt korrekt auszuführen. Ist das nicht so, erleben Sie vermutlich eine böse Überraschung. Aber wenn Sie den Prozess so planen, dass er für alle einfach nachvollziehbar ist (und es nicht möglich ist, Fehler zu machen), müssen Sie niemanden betrafen oder kontrollieren.
Menschen sind keine Maschinen. Aber Menschen können Maschinen klug nutzen.
Checklistenkonzept
Das ist ein Vorschlag des Arztes Atul Gawande, den er detailliert in seinem Buch „Checklistenmanifest“ beschreibt. Wenn Sie wiederholende Tätigkeiten ausüben – also eine langweilige Sache mit mehreren Schritten, durch die Sie zeitgleich unsensibel Fehlern gegenüber werden – sollten Sie Checklisten verwenden.
Das Problem mit Stress / Druck / Dringlichkeit
Vor langer Zeit hat mir eine Kollegin aus der Buchhaltung beigebracht, meinen Stress nicht auf andere Menschen zu übertragen. Es führt nicht zu besseren Beziehungen, nicht zu schnelleren Ergebnissen und niemand fühlt sich gut dabei.
Das ist eine meiner ersten Regeln:
Selbst, wenn ich mächtig im Stress bin, versuche ich, andere nicht zu stressen. Sie werden nach ein paar Monaten feststellen, dass andere ihren Stress auch nicht mehr auf Sie übertragen oder das nur noch machen, wenn es absolut erforderlich ist.
Informationen + Beziehungen
Diese zwei Dinge gehen Hand in Hand. Je besser Ihre Beziehung zu andern ist, umso einfacher erhalten Sie Informationen über die Prioritäten Ihrer Ansprechpartner und können so die Komplexität um Sie herum steuern.
Wissen macht Ihr Leben einfacher. Gute Beziehungen aber auch. Fragen Sie nach bevor Sie etwas tun. Sie sind unsicher – noch einmal fragen.
Die Menschen schätzen es, wenn Sie sich kümmern.
Die schnellsten Rückmeldungen und besten Informationen bekomme ich an der Kaffeemaschine. Ich mag es nicht, endlose Besprechungen zu planen und finde es besser, opportunistisch mit einer Person zu plaudern, um herauszufinden, was die beste Strategie für den nächsten Schritt wäre.
Prioritäten
Ich habe für jeden Tag, jede Woche und jeden Monat eine Prioritätenliste. Anhand sämtlicher Informationen und unter Berücksichtigung meiner Beziehungen und Dringlichkeiten weiß ich so ungefähr, was ich heute erreichen muss. Die Prioritäten sollten, ebenso wie alle Informationen, mit den Beteiligten Ihres Prozesses geprüft werden.
Das Problem mit der Ablenkung
Ich muss damit leider jeden Tag leben. Das Farbcodierungssystem und die To-do-Listen helfen Ihnen nach einer Ablenkung durch einen Anruf oder eine dringliche E-Mail dabei, wieder zurück zu den wichtigen Punkten zu kommen. Aber hier kommt der Teil, an dem ich sage: Ich bin absolut gegen eine 24/7-Verfügbarkeit. Davon halte ich überhaupt nichts. Ich schalte abends gerne ab. Genauso gerne schalte ich an den Wochenenden ab.
Ich checke meine E-Mails nicht am Wochenende. Also, nicht mehr. Ich habe, wie wir alle, mit 150 % angefangen. Dann habe ich verstanden, dass ich nicht mehr genug Ressourcen für mich selber habe. Und wenn ich nicht mehr genug Ressourcen für mich habe und mir keine Zeit nehme, um mich auch einmal auszuruhen – wer soll dann arbeiten? Wer braucht schon Arbeit, die einen umbringt?
Mit dieser optimistischen Anmerkung möchte ich mein langes Gespräch gerne beenden. Ich hoffe, es hat Ihnen Spaß gemacht! Es würde mich freuen, wenn Sie mir Ihre Erfahrungen und Tipps mitteilen würden. Was machen Sie, um alles am Laufen zu halten und nicht durchzudrehen? Ich freue mich auf Ihre Kommentare!